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Ansprache zum Volkstrauertag 2006
Unter Verwendung von Matthäus 5,5-10
Thema: Im Gespräch mit der erinnernden Generation  

Pfarrer Gunther Seibold, Hemmingen
gehalten am 19.11.2006 in Hemmingen

Verehrte Anwesende,

eingedenk der Abwesenden,

 

meine Gesprächspartnerin, etwa 70 oder mehr,

sie ist heute hier auf den Friedhof gekommen.

Sie blickt feierlich ernst.

Sie ist da, weil alle hier da sind,

weil heute Volkstrauertag ist.

Ein staatlicher Gedenktag

für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

 

Von diesen Opfern weiß sie.

Sie weiß,

dass die Toten der Weltkriege

des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt stehen.

Wenn Sie sich weit zurückerinnert,

dann erinnert sie sich an zwei, drei oder auch mehr Namen,

vielleicht auch deren Bilder:

Nachbarn, Onkel, Väter, Brüder

oder deren Kriegskameraden.

Das sind einzelne.

Die meisten kennt sie vom Erzählen,

oder weil sie die Namen kennt.

Ramsaier, Weingärtner, Huber,

Rapp und andere,

wo Verwandte da sind.

 

Traurig ist sie, meine Gesprächspartnerin,

wenn sie an diese Toten und ihre Zeit denkt.

Sie sind gestorben,

viele in ehrenwerter Absicht für’s Vaterland,

aber der Krieg war ungerecht

und vom Vaterland unter seinem Führer verschuldet

und am Ende für’s Vaterland katastrophal.

Meine Gesprächspartnerin denkt mit Schrecken zurück

an die Zeiten der Angst,

an die Dunkelheit der Kriegsnächte,

an den schrecklichen Bombeneinschlag in Hemmingen am 5. November 44,

dem 12 Mitbürgerinnen und Mitbürger zum Opfer fielen.

 

Heute sind die Zeiten anders geworden

für meine Gesprächspartnerin.

Sie hat sich mit dem Land wieder aufgerappelt

in den Tagen nach dem Krieg.

Flüchtlinge kamen und wurden aufgenommen,

auch sie Opfer der Gewaltherrschaft.

Meine Gesprächspartnerin teilt mir mit,

dass das alles zusammengewachsen ist,

trotz mancher Vorbehalte am Anfang.

Das Dorf ist groß geworden,

Verkehr und hohe Häuser sind dazugekommen.

Die Wunden des Krieges sind verdeckt

von blitzsauberen Teerbelägen,

erfolgreichen Sanierungen und gepflegtem Grün.

 

Der Krieg ist im Allgemeinen für meine Gesprächspartnerin weit weg.

Fast nur an Tagen wie heute denkt sie intensiv daran.

Oder dann,

wenn in den Nachrichten einmal wieder der Krieg nahe da ist,

weil befreundete Nationen Probleme haben

oder junge Deutsche in Krisengebiete hinaus

und von ihren Müttern und ihrer Heimat davon müssen.

 

Dann spürt meine Gesprächspartnerin,

wie schlimm Krieg und Gewaltherrschaft sind,

wieviel Schmerz und Not sie verbreiten.

Und dann sagt sie:

Hoffentlich erleben wir das nie wieder bei uns!

 

Ich habe meiner Gesprächspartnerin lange in die Augen geschaut.

Ich spüre:

Es ist wichtig,

dass wir uns erinnern. Gemeinsam.

Nur so können wir sagen:

Das, was wir erlebt haben, darf nie mehr sein!

 

Ich selbst gehöre nicht zu denen,

die eine eigene Erinnerung haben.

Aber meine Gesprächspartnerin nimmt mich mit hinein

in die gemeinsame Erinnerung.

 

Ich will mir das sagen lassen:

Es war schlimm und denke daran!

Ihr Jungen, weicht der Erinnerung eurer Väter und Mütter,

eures Ortes und eures Volkes nicht aus

und nehmt das als Vermächtnis,

dass ihr euch dem Spiel der Gewalt verweigert

und den Frieden sucht.

 

Meine Gesprächspartnerin hält inne.

Ihre Kinder,

die Jugendlichen im Ort gehen ihr durch den Kopf.

Ob es möglich ist,

ihnen zu erzählen, was passiert ist,

auch wenn Sie am Volkstrauertag nicht am öffentlichen Gedenken

auf dem Friedhof teilnehmen?

Ob der Volkstrauertag ein familiärer Anlass sein könnte,

nicht immer, aber wenigstens an diesem Sonntag zu erzählen,

erzählen zu dürfen

und Aufmerksamkeit zu finden?

 

Ich, der ich nicht dabei war,

will zuhören und persönlich am liebsten schweigen.

Das mahnende Gedächtnis soll reden.

Worte sagen, was wir im Grunde schon wissen.

Nicht nur wissen, vielmehr spüren müssen das die Jüngeren auch,

den Schrecken der Gewalt,

so wie das die Älteren mit sich tragen.

 

So in Gedanken verharren wir schweigend einen Moment.

Meine Gesprächspartnerin blickt mich an.

Ich soll nicht schweigen.

Nicht persönlich, sondern als Pfarrer bin ich ja bei ihr.

Sie erwartet nicht meine stille Betroffenheit,

sondern dass ich tue,

was mein Beruf ist.

 

Pfarrer ist mein Beruf.

Als Pfarrer ist mein Beruf, das Wort Gottes weiterzugeben.

Mir fallen Worte Jesu aus der Bergpredigt ein:

„Selig sind, die da Leid tragen,

denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen,

die sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit,

denn sie sollen satt werden.

Selig sind die Barmherzigen,

denn sie sollen Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind, die reinen Herzens sind,

denn sie werden Gott schauen.

Selig sind die Friedfertigen,

denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt.5,4-9).

 

Meine Gesprächspartnerin kennt diese Worte,

jedenfalls hat sie sie schon gehört.

Sie tun gut.

Sie entschuldigen nichts:

Sie sprechen von Leid, Hunger und Durst,

Opfern von Gewalt.

Aber sie machen auch Mut,

sie erinnern daran,

dass Jesus, der Sohn Gottes,

Friedfertigen die Seligkeit verspricht.

 

Ich sage meiner Gesprächspartnerin,

dass ich besonders wichtig finde,

wer diese Worte sagt.

Jesus,

der selbst ein Opfer der Gewalt wurde.

Jesus,

dessen Name auf der anderen Seite ein Inbegriff

für die Liebe Gottes, für Trost und Frieden ist.

 

Gemeinsam mit meiner Gesprächspartnerin

denke ich darüber nach,

was Jesus an einem Tag wie diesem sagen würde.

Wir spüren,

dass Unseres die Erinnerung wäre.

Wir brauchen Appelle gegen Krieg und Gewalt.

Auch von Jesus würden wir das erwarten.

Aber noch mehr.

Einen Blick über das Irdische hinaus.

Eine Hoffnung, die wir uns selbst

gerade an den Gräbern und Gefallenenmalen

nicht sagen können.

Wir wollten nicht bei der Erde stehen bleiben,

sondern dass über uns der Himmel aufgeht.

Das führt mich zu einer weiteren der Seligpreisungen Jesu:

 

 „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;

denn ihrer ist das Himmelreich.“ (Mt.5,10)

 

Meine Gesprächspartnerin blickt mich immer noch feierlich

und ernst an.

Es ist ja Volkstrauertag.

Aber wir blicken nicht nur zu Boden.

Als Christen haben wir Hoffnung über die Gräber hinaus,

dem Himmel entgegen.

Wenn wir auf ihn setzen,

dann hat in unserem Weltbild nicht die Gewalt das Ende,

sondern die Hoffnung und das Ewige Leben.

Das macht Mut,

Schritte gegen Krieg und Gewaltherrschaft zu tun.

So hoffen wir hoffentlich miteinander.

 

Meine Gesprächspartnerin,

liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

liebe Schwestern und Brüder,

sind Sie alle, vielleicht an die 70 oder mehr,

Gemeinschaft in der Erinnerung und in der Hoffnung

unter Gottes Himmel,

unter den wir jetzt hinaustreten werden.

Ich danke Ihnen.

 

 

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