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Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis
Klgl.3,21-27.31-33 Die Klagelieder Jeremias
Thema:  Klage - nicht kläglich

Predigt von Pfarrer Gunther Seibold, Hemmingen
gehalten am 11.09.2005 in Hemmingen

Ach Gott, der Urlaub ist vorbei,

unsre Zeit nicht mehr so frei,

du lässt uns Tag für Tag am Morgen

aufstehn zur Arbeit und mit Sorgen.

Warum nur können wir nicht eben

einfach los sein, einfach leben?

 

Liebe Gemeinde,

statt mit diesen Worten hätte ich auch etwas anders anfangen können.

O je,

schon wieder der Urlaub vorbei.

Jeden Morgen geht die Quälerei wieder los,

bei mir auf jeden Sonntag.

Bei Ihnen: Arbeit oder Schule

und Wohnung und Haus sowieso.

Wass soll’s? Ich will nicht. Wie lange soll das noch gehen?

 

Ich denke,

dass Sie froh sind,

dass ich nicht so weitermache!

 

Da wirkte der 6-Zeiler am Anfang zum gleichen Thema

doch irgendwie anders.

Was war der Unterschied?

Oder die Unterschiede?

 

Ich denke, dass das in den Punkten zum Ausdruck kommen wird,

anhand derer ich die Bibelworte sprechen lassen will,

die heute Predigttext sind.

Sie kommen aus dem biblischen Buch der Klagelieder.

 

Der erste Punkt:

   Klage auf hohem Niveau

 

Wenn wir davon sprechen,

dass wir auf hohem Niveau klagen,

dann meinen wir in der Regel,

dass da Leute klagen über Probleme,

denen es eigentlich noch ganz gut geht.

Häufig ist das bei uns so,

weil es uns in unserem Land und erst recht in unserer Region

in den meisten gesellschaftlichen Dingen

verhältnismäßig gut geht.

 

Wenn ich zu den Klageliedern in der Bibel

aber behaupte, dass sie Klage auf hohem Niveau sind,

dann meine ich das etwas anders.

Die Situation war dort wirklich katastrophal.

Aber die Klage ist regelrecht Kunst.

Literarische Kunst auf hohem Niveau.

Das Buch der Klagelieder ist ein Kunstwerk.

Weil der heutige Sonntag der einzige in 6 Jahren ist,

an dem aus den Klageliedern gepredigt wird,

möchte ich etwas ausholen und Ihnen dieses Buch als Ganzes

kurz vorstellen und vielleicht Lust aufs Lesen machen.

 

Das Buch der Klagelieder ist ein Gedichtbuch,

kunstvoll gereimt entlang dem hebräischen Alphabet.

Anders als bei uns, die wir im Endreim dichten,

reimen die Klagelieder nach den Zeilenanfängen.

Die ersten Buchstaben jeder Zeile ergeben nacheinander das hebräische Alphabet mit seinen 22 Zeichen.

Von den 5 Kapiteln haben logischerweise alle 22 Verse,

außer Kapitel 3,

das steht in der Mitte und ist noch kunstvoller gemacht:

Dort sind immer 3 Zeilen auf einen Buchstaben gereimt,

das macht dann 3 x 22 Zeilen und also 66 Verse.

 

Warum ist ausgerechnet die Klage so kunstvoll gemacht?

Wird sie dann nicht künstlich?

Ich denke, nein.

 

Wie in der Bibel ist es auch noch in unserer Gegenwart.

Weniger das Liebesglück macht große Texte

als der Liebeskummer.

Vielen ist es persönlich vertraut,

dass Klagesituationen zum Tagebuchschreiben bringen.

Wahrscheinlich liegt es daran,

dass große Literatur so oft einen depressiven Charakter hat,

weil die Not intensiver formulieren lässt.

Durchlebte Not ist eine wesentliche,

vielleicht sogar eine notwendige Voraussetzung für tiefe Gedanken.

 

Was war nun die Not der biblischen Klagelieder?

 

Da war das kleine Königreich Juda,

das zwischen den Fronten der Großmächte Babylonien

und Ägypten zerrieben wurde.

Und in dem kleinen Königreich

lebte ein noch kleinerer Mann, der allerdings ein großer Prophet war.

Das war Jeremia.

Weil er den Untergang des Reiches Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem voraussah und voraussagte,

konnte man ihn nicht ausstehen und warf ihn tief hinunter in eine Zisterne.

Dort hauste er dann,

bis tatsächlich eines Tages im Jahr 587 vor Christus die Babylonier

da waren und ihn aus dem Loch befreiten.

 

Obwohl das Buch der Klagelieder selbst

keinen Hinweis gibt auf den Dichter,

hat man es mit Jeremia verbunden

und das kann man sich auch so vorstellen.

Mindestens ist es aus seiner Situation heraus verständlich.

 

Denn die Klagelieder beweinen das untergegangene Jerusalem

und sie klagen Gott dafür an,

dass er das zugelassen hat

und den Ungehorsam des Volkes so grausam bestrafen ließ.

In den ersten beiden Versen heißt es (Klgl.1,1-2):

“Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war!

Sie ist wie eine Witwe,

die Fürstin unter den Völkern,

und die eine Königin in den Ländern war,

muss nun dienen.

Sie weint des Nachts, dass ihr die Tränen über die Backen laufen.

Es ist niemand unter ihren Liebhabern,

der sie tröstet.“

 

Wenn man die Klagelieder liest,

dann wechseln da immer wieder die sprechenden Personen.

Mal ist die Klage Bericht,

dann wird sie in den Mund der Stadt Jerusalem gelegt

oder ein „wir“, also wohl das Volk,

ruft Gott an.

 

Wir können uns dabei die Menschen vorstellen,

die noch in Jerusalemwaren und nicht nach Babylon verschleppt wurden.

In der zerstörten Stadt feierten sie

Klage- und Bittgottesdienst an der Tempelstelle.

Auch Jeremia war in der Stadt geblieben

und dürfte dabei mitgewirkt haben.

Traditionell werden die Klagelieder als Klagelieder Jeremias gelesen

und die Passagen, die als Klage eines Einzelnen formuliert sind,

auf seine Geschichte bezogen.

 

An diesem Tiefpunkt Israels

besinnen sich die Israeliten besonders intensiv auf ihren Gott

und gehen in die Auseinandersetzung mit ihm.

Diese Intensität führt in die Kunst dieser Klage.

Die Formulierungen sind nicht spontane Emotion,

sondern zur Wiederholung hergestellt,

zum immer wiederkehrenden öffentlichen

Anrufen und Bedrängen Gottes.

 

Solche Klage leistet etwas Wichtiges:

Sie führt aus dem individuellen Gejammere

in eine gemeinsame geordnete Auseinandersetzung.

 

Für ein Volk ist das ein Bedürfnis

und hilfreich.

Ähnliches ist in unseren Zeiten in den Tagen

nach dem heutigen 11. September vor 5 Jahren passiert,

als öffentliche Klagegottesdienste

im Anschluss an die Anschläge auf New York und Washington gehalten wurden.

Die Kirchen sind gerufen,

in Katastrophen die Klage öffenlich zu machen,

auch und gerade die Klage vor Gott.

Im Gebet im Gottesdienst benennen wir daher immer wieder

unsere Sehnsucht hach Heil und Frieden für die Menschen.

 

Die Klage der Gemeinschaft führt den einzelnen heraus aus dem Kreisen um sich selbst.

Als solche ist sie hilfreich und weiterführend.

 

Damit komme ich zu einem Zweiten:

 

   Klage als Reifezeugnis des Glaubens

 

Der biblische Glaube lebt uns mit den Klageliedern etwas vor,

was von erheblicher Bedeutung dafür ist,

an welchen Gott wir glauben.

 

Unser Gott mutet sich die Klage der Menschen zu.

Er ist nicht ein ferner Gott,

von dem wir Menschen alles klaglos hinnehmen müssten.

Das wäre Fatalismus,

sich einfach ins Fatum, ins Schicksal schicken.

Die Großen des Glaubens in der Bibel

leben uns das ganz anders vor.

 

Die gute Nachricht ist dabei,

dass Gott ein naher Gott ist.

Wenn wir Grund zur Klage haben,

dann verbietet Gott uns nicht auch noch die Klage.

Die Klage ist erlaubt, nicht verboten.

Sie ist sogar Zeichen eines reifen Glaubens.

Wir dürfen Gott Vorwürfe machen,

wenn das unsere Lage uns aufdrängt.

 

Die Klage im dritten Kapitel der Klagelieder

stellt uns einen im tiefsten getroffenen Jeremia vor:

„Ich bin der Mann,“ heißt es da,

„der Elnd sehen muss durch die Rute des Grimmes Gottes.

Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis

und nicht ins Licht.“ (3,1-2)

 

Jeremia ist nicht der einzige,

der in der Bibel mit Gott in die Auseinandersetzung geht

und mit ihm ringt.

In unseren Ferien stießen wir bei einer Freizeit auf Jakob.

Dieser Vater Israels kam durch das Ringen mit Gott

in die Freiheit des Glaubens.

Das passierte in der Geschichte,

die von seinem nächtlichen Ringen am Fluss Jabbok erzählt wird.

Jakob ringt mit Gott und legt ihn fest auf seine Verheißung

und sagt mit dem bekannten Satz:

„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (Gen.32,27)

 

Ähnliches findet sich auch bei Jesus

in der Geschichte, die wir vorhin als Schriftlesung gehört haben:

Jesus ringt im Gebet mit dem Vater um den rechten Weg.

„Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir,

doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ (Lk.22,42)

Der Kelch, den Jesus im übertragenen Sinne trinkt,

wird der Kelch des Heils.

 

Der Jakobusbrief sagt dazu,

wie Menschen mit Gott ringen und dadurch reif werden:

„Selig ist der Mensch, der die Anfechtung erduldet;

denn nachdem er bewährt ist,

wird er die Krone des Lebens empfangen,

die Gott verheißen hat denen, die ihn lieben.“ (Jak.1,1)

 

Wenn wir in die Lage kommen,

dass wir Gott unsere Klagen zuschreien,

dann ist das also nicht ein Weg aus dem Glauben hinaus,

sondern ein Zeichen der Reife unseres Glaubens.

Die Alternative wäre, Gott egal sein zu lassen,

ihn zu vergessen und totzuschweigen.

Wer aber an Gott hängt, wird mit ihm ringen

und wird persönlichen Gewinn davon haben.

Diese Hoffnung bestimmt die Klagelieder

und kann auch unser Klagen bestimmen,

wenn wir mit unserer Not zu Gott kommen.

Im 5. Kapitel enden die Klagelieder mit einer Bitte und Frage:

„Bringe uns, Herr, zu dir zurück,

dass wir wieder heimkommen;

erneure unsre Tage wie vor alters!

Hast du uns denn ganz verworfen,

und bist du allzusehr über uns erzürnt?“

 

   Statt dem „noch“ die Treue Gottes

 

Nun muss ich endlich zu den Versen kommen,

die der Predigttext im engeren Sinne für heute sind!

Wenn man diese für sich alleine nimmt,

dann kommt die Klage gar nicht vor,

weil der liturgische Kalender

die Verse der Zuversicht und Hoffnung

auf die Treue Gottes isoliert,

wie sie in der Mitte der Klagelieder

im dritten Kapitel laut werden.

 

Mitten in der Klage findet sich dort ein

Hohes Lied auf die Treue Gottes.

 

Es sind Worte,

die vielen bekannt sind.

In der Lutherbibel

sind es jede Menge fett gedruckte Bibelverse am Stück.

 

Klagelieder 3, die Verse 22-27 und 31-33.

Ich nehme mit Vers 33 einen Vers mehr dazu,

als vorgesehen, weil der Reim ja immer 3 Zeilen umfasst

und daher die Verse 31 bis 33 zusammengehören.

 

V.22:

Ch

22 Die Güte des HERRN ist's, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,

23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.

Taw

25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.

26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.

27 Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, daß er das Joch in seiner Jugend trage.

Jot

28 Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt,

29 und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung.

30 Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun.

Kaf

31 Denn der HERR verstößt nicht ewig;

32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

33 Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen.

 

So schön Luther diese Worte übersetzt hat,

von der Güte, die es macht, dass wir nicht „gar aus“ sind.

Ich will ihn dennoch korrigieren.

Luther übersetzt:

„Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind,

seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.“

 

In diesem Vers steht das kleine Wörtchen „noch“,

aber es steht nicht im Urtext.

Hebräisch heißt es: „seine Barmherzigkeit hat kein Ende.“

 

Und dieses kleine Wörtchen „noch“ macht einen gewaltigen Unterschied.

Im „noch“ steckt immer die Angst,

die Angst, dass etwas noch anhält, aber bald eben doch gar aus ist.

 

Alles Irdische und Menschliche steht unter dem „noch“:

Noch steht der Eifelturm,

noch sind die Erdölreserven nicht am Ende.

Bei den Menschen wird mit dem Alter

die Rede vom „noch“ immer häufiger.

Ich kann noch selbst einkaufen,

ich kann noch lesen usw.

 

Warum wir mitten im Elend Hoffnung haben können,

liegt daran, dass Gott selbst nicht unter dem „noch“ steht.

So jedenfalls sehen es die Klagelieder Jeremias.

 

Gottes Treue geht weiter, heißt es da.

„All Morgen ist ganz frisch und neu“,

wie wir gesungen haben so spricht Vers 23.

Oder Vers 24:

„Der Herr ist mein Teil“,

also der Ort, der mir in Ewigkeit bestimmt ist,

„darum will ich auf ihn hoffen“.

 

Vers 31 und die folgenden benennen ausdrücklich,

dass Gottes Herzensgüte am Ende stehen werden:

„Der Herr verstößt nicht auf ewig, ...

er erbarmt sich wieder nach seiner Güte.

Nicht von Herzen plagt er die Menschen.“

Vielmehr ist sein Herz eigentlich den Menschen zugewandt.

 

   Zusammenfassung

 

Damit haben wir einige Punkte gesammelt,

die wir von den Klageliedern her

mitnehmen können in unsere Not.

 

Ich denke dabei an die private Not,

wenn wir mit Krankheiten kämpfen

oder Streit.

Ich denke aber speziell auch an die öffentlich behandelte Not,

wie sie in den Klageliedern da ist.

 

Wir haben die Punkte gesammelt,

die der Klage eine Verheißung geben:

 

In der Klage treten die Situation der Not

und der Glaube an die endgültige Zuwendung durch Gott

in einen Streit.

Damit führt die Klage über die Not hinaus.

Sie blickt in Gott auf ein Gegenüber,

das nicht drinsteckt in der Not

und gleichzeitig nicht der Not kalt gegenüber steht,

sondern auf Barmherzigkeit hoffen lässt.

 

Solche Klage ist Zeugnis eines reifen Glaubens,

der aktiv um den rechten Weg ringt.

So klagen ist nicht kläglich,

sondern zeugt von hohem Niveau!

 

Klage ist dann etwas ganz anders als Jammern.

Vielleicht ist das Jammern auch nicht ganz sinnlos,

aber es ist etwas völlig anderes.

Jammern zieht eher hinunter,

während Klage öffnet für eine fruchtbare Auseinandersetzung.

Ich habe das Jammer-Beispiel vom Anfang

daher nicht mehr aufgegriffen.

 

   Schluss

 

Statt dessen will ich abschließend

den 6-Zeiler vom Anfang

noch einmal aufgreifen und eine zweite Strophe dazu vortragen.

Sie hat sich verändert durch die Worte

der Zuversicht aus den Klageliedern Jeremias:

 

Ach Gott, der Urlaub ist vorbei.

Unser Alltag hat uns neu.

Du hörst uns auch mit unsern Sorgen.

Durch deine Treu ist täglich Morgen.

Nicht „noch“, nein immer wirst du geben,

das lass uns zuversichtlich leben.

Amen.

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