Predigt von Vikar Gunther Seibold, Urbach
gehalten am
17.09.2000 in der Afrakirche Urbach
(Prüfungspredigt)
Liebe Gemeinde,
zwei Menschen in
gespannten Beziehungen, Neid, hässliche Gefühle - schließlich ein Mord. Blut
fließt. Dieser dramatisch riechende Stoff stammt aus der Bibel und gleich aus
deren ersten Seiten. Er ist der Stoff für die heutige Predigt.
Neid, Haß, Mord und Totschlag - seit Menschen sind, spielen
sich solche Geschichten ab. Jeden Abend im Fernsehen und viel zu oft auch live
an unseren Orten.
Das Besondere aber an unserer
Geschichte heute ist dann noch, dass da ein Gott ist. Das macht das Ganze erst
einmal komplizierter, wirft viele Fragen auf. Wird das Ende gut? Wir werden
sehen.
Hören Sie jetzt die Geschichte von Kains
Brudermord aus dem 1. Buch Mose, Kap.4, die Verse 1-16. Ich danke N.N., dass er
mit für Abwechslung beim Lesen sorgt und die Stimme Gottes übernimmt. Nachher
will ich in der Predigt unter anderem den Fragen Gottes an Kain entlanggehen.
Text
1 Und Adam erkannte sein Weib Eva,
und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Menschen
geboren mit Hilfe des Herrn. 2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel
wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
3 Es
begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain [Gott, dem] Herrn Opfer brachte von
den Früchten des Feldes. 4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde
und von ihrem Fett. Und der Herr sah [...] an Abel und sein Opfer, 5 aber Kain
und sein Opfer sah er nicht [...] an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster
seinen Blick. 6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst
du deinen Blick? 7I st's nicht also? Wenn du [gut handelst], so kannst du frei
den Blick erheben. [Handelst] du aber nicht [gut], so lauert die Sünde vor der
Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. 8 Da sprach Kain
zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf
dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
9 Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel?
Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10 Er aber
sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir
von der Erde. 11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat
aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. 12 Wenn du den
Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und
flüchtig sollst du sein auf Erden. 13 Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine
Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du treibst mich
heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet
und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlägt, wer mich
findet. 15 Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das
soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß
ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht
des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Bild
Die letzte Einstellung meiner inneren
Kamera, liebe Gemeinde, zeigt in dieser Geschichte das Bild einer leeren,
dunklen Erde. Das Feld liegt leer da, alle drei Hauptpersonen sind nicht zu
sehen: Abel liegt unter der Erde, die sein Blut geschluckt hat. Kain ist
weggegangen in ein anderes Land. Und Gott ist unsichtbar geblieben.
Keiner ist zu sehen, nur die vom Mord erschütterte Erde.
Ein dunkles Bild.
I. Leben mit dem unbekannten Gott
Diese Erzählung von Kain ist eine
düstere Geschichte. Ich will im ersten Teil der Predigt einmal bei diesem
dunklen Bild bleiben, bei den Fragen - auch an Gott, beim »Leben mit den
unbekannten Seiten Gottes«. Dazu darf es jetzt in der Kirche auch einmal dunkler
werden. [Licht in der Kirche aus]
Kain, liebe Gemeinde,
ist der erste Mensch, der außerhalb des Paradieses geboren wird. Er ist der
erste von uns allen und steht für uns alle. Und er wird doch gleich zum ersten
Mörder. Die Geschichte von Kain beschreibt Typisches, sie erzählt von einem
Tiefpunkt, zu dem wir Menschen fähig sind: Kain, der Mensch, bringt sogar seinen
Bruder um.
Der Mensch kommt also schlecht weg in dieser
Geschichte. Die Geschichte geht schlecht aus für ihn. Kain endet im Land Nod,
das bedeutet soviel wie Heimatlosigkeit.
Und Gott? Was
ist eigentlich mit ihm? Wer heute diese Geschichte hört, der fragt sich doch
sofort: War nicht etwa Gott der Auslöser in dem ganzen Schlamassel, wenn es da
heißt, er habe Abel angesehen und Kain nicht?
Kain war
doch ein guter Mann gewesen, hatte es genauso gut wie sein Bruder gemeint.
Beide, so erzählt die Geschichte, brachten Gott eine Gabe vom Besten, was sie
hatten.
Wie wir die Aussage verstehen sollen, dass Gott
den einen ansieht und den andern nicht, wissen wir heute leider nicht mehr.
Wahrscheinlich, so vermuten die Wissenschaftler, heißt das eben, dass es Abel in
der Zeit nach dem Opfer gut ging und Kain ging es schlechter zu dieser Zeit.
Mir ist an dieser Stelle die Beobachtung in der Geschichte
von Kain wichtig, dass Gott hier nichts von sich selbst sagt. Es heißt nirgends,
dass Gott Kain benachteiligen wolle. Der anstößige Satz formuliert vielmehr aus
menschlicher Sicht, wie eine Deutung: Und Gott sah an Abel und sein Opfer, aber
Kain und sein Opfer sah er nicht an.
Die Aussage über
Gott klingt etwa so, wie bei einem Freund von mir, der einen Motorradunfall
hatte. Er sagte zu mir: "Gott hat mich aus der Kurve fliegen lassen und die
andern sind herumgekommen! Dabei bin ich sogar immer im Jugendkreis gewesen!"
Es ist ganz natürlich, dass wir Menschen so nach Gott
fragen, wenn uns Dinge passieren, die wir nicht erklären können. Auch wenn die
Geschichte von Kain diese Frage im Folgenden einfach übergeht - uns interessiert
einfach, warum Gott die Unterschiede zulässt, die zum Neid führen.
Leider finden wir dazu weder hier in der Bibel noch in der
gesamten Philosophie der Menschheit eine Antwort. Gottes Wesen ist uns an dieser
Stelle verborgen. Wir wissen einfach nicht, warum das so sein muss.
Keine Beweise, aber ein paar Argumente sind für Gott immer
wieder ins Feld geführt worden zu dieser Sache, die ich ihnen nicht vorenthalten
will.
Man kann zum Beispiel sagen, dass Gott es gut
eingerichtet habe, indem er keine Gleichmacherei betrieb. Wir sind alle
unverwechselbare und eigenständige Menschen, unsere Berufe sind noch
vielfältiger als Ackerbauer und Hirte. Das ist ja schön so und gut. Aber es
macht eben auch Unterschiede.
Unterschiede macht auch,
dass wir körperlich alle anders aussehen und eine andere Konstitution haben.
Wenn wir da sehen auf die Sportlerinnen und Sportler, die jetzt bei den
(vorgestern eröffneten) Olympischen Spielen um Medaillen kämpfen, könnten wir
doch manchmal vor Neid erblassen. Zur guten Schöpfung mit ihrer Mannigfaltigkeit
gehören eben individuelle Vorzüge und Nachteile, auch wenn Gott keinen
benachteiligen will.
Dass wir nicht alles verstehen von
Gott, das kann auch ganz tröstlich sein. Alles zu wissen, würde unsern Verstand
überfordern. Wir müssten ja Gott sein, um alles von Gott zu wissen.
Und Kain, so wie er uns erzählt wird, war nun noch einmal
in einer ganz andern Lage als wir. Seine Geschichte spielt ganz am Anfang, so
dass er noch fast gar nichts über Gott wissen konnte. Kain wird uns als der
beschrieben, der damals lebte, als Gott noch gar nicht angefangen hatte, sich
selbst zu zeigen. Kain lebt, bevor Gott sich Abraham zeigte, bevor er Mose und
sein Volk führte. Kain lebt noch weit bevor er Jesus kennen konnte.
Kain, das ist der Mensch, der noch fast nichts weiß von
Gott. Er weiß nur, was auf den ersten zwei Seiten unserer Bibel steht, die
andern 2187 Seiten kennt er nicht.
So muss Kain mit
Fragen an Gott leben. Kain begegnet unbekannten Seiten Gottes. Damit ist Kain
freilich in einer Lage, die mir auch vertraut ist. Manchmal fühle ich mich
tatsächlich so wie Kain, dass mich ungelöste Fragen an Gott beschäftigen. Meine
Lage erfordert dann, dass ich »mit unbekannten Seiten Gottes leben« lerne.
Dazu gehört, dass ich doch wieder an die vielen Seiten in
meiner Bibel denke, die nach der Geschichte von Kain noch folgen. Ich denke auch
an die vielen Erfahrungen mit Gott von Christinnen und Christen, von denen ich
gehört habe. Und ich denke an viele eigene Erfahrungen im Glauben. Lebe ich
tatsächlich mit einem unbekannten Gott? Bin ich nicht in der glücklichen Lage,
dass wir inzwischen mehr von Gott wissen können als Kain damals?
Ich fühle mich manchmal wie Kain, aber ich muss nicht dort,
wo er war, stehen bleiben.
Daher geht es mir im
Folgenden um die beleuchteten Seiten Gottes, um "ein Leben mit dem Gott, der
sich bekannt gemacht hat".
Dazu machen wir das Licht
wieder an. Vielen Dank! [Licht in der Kirche an]
Von den vielen Lichtstrahlen Gottes,
die die Bibel füllen, kann ich gar nicht alles hier erwähnen.
Ich nehme daher die 3 Fragen Gottes an Kain zum Anlass: An
was könnten wir Späteren uns erinnern, was Kain noch nicht wusste? Kain bekommt
manches in Fragen und rätselhaften Sätzen angedeutet, was wir aus dem Reichtum
der Bibel heraus füllen können.
Liebe Gemeinde, wir leben heute. Wir
sind auch Menschen wie Kain, Menschen, die außerhalb des Paradieses geboren
werden. Aber wir leben in einer andern Situation, wir dürfen Menschen sein, die
nicht nur unbekannte Seiten Gottes kennen, sondern die mehr erfahren haben. Wir
können nachfragen und nachlesen und voneinander lernen, wie beispielsweise seit
dieser Woche wieder im Reli- oder Konfirmandenunterricht. Es gibt viel davon zu
erzählen, wie Gott sich gezeigt hat - auch mitten unter uns.
Damit also müssen unsere Geschichten, wo wir in Kains Lage
sind, wo wir leiden und wo wir offene Fragen an Gott haben, nicht mehr so
ausgehen wie bei Kain. Wir haben nicht mehr nur einen unbekannten Gott, sondern
wir haben viel gezeigt bekommen von Gottes hellen Seiten.
Martin Luther ging an diesen Zusammenhängen ein Licht auf
in seinem theologischen Denken. Im Streit mit Philosophen, die von Gott nichts
genaues wissen wollten, sprach er von verborgenen Seiten Gottes und vom
offenbaren Gott.
Von daher kommt der Rat Luthers: Halte
dich an den offenbaren Gott, da kannst du Gewissheit haben. Du brauchst nicht zu
sagen, dass es alles unklar sei mit Gott. Manches bleibt unklar, aber das
Entscheidende ist klar. Dieses Entscheidende hat Luther in Jesus Christus
gesehen.
Schlussbild
Nach diesem Blick über Kain hinaus in
die weite Welt der Bibel hat sich in meinem dunklen Bild vom Anfang etwas
verändert.
Das Bild einer leeren, dunklen Erde ist zwar
da. Die Erde um mich herum ist noch immer düster von menschlichem Versagen und
offenen Fragen.
Aber das Bild hat sich doch verändert.
In das Dunkel sind Lichtstrahlen hereingebrochen. Sie sind wie ein Leuchtturm am
Horizont.
Mag es noch so dunkel sein, wo ein Licht
leuchtet, kann ich mich an das Licht halten. Es gibt mir Richtung und macht mich
gewiss.
Lassen Sie uns als Nachgeborene Kains davon
wegkommen, dass wir auf das Verborgene starren, Gott gebe uns, dass wir uns
orientieren an dem, wie er sich in Liebe gezeigt hat.
Amen.